Wenn der Richter „ein bisschen Klarheit“ einfordert
Raub im Kreis Rottweil vor Gericht / Es geht um einen Tunesier, zwei junge Frauen, Sexversprechen, unklare Opferrollen und hin und her geraubte Handys

Das Böse ist immer und überall: Zwei junge, sehr unscheinbare Frauen sollen einen Kumpel zu einem Raub angestiftet haben. Einen ebenfalls jungen, nicht zimperlichen Tunesier, der eine Akte bei Interpol hat und nicht in ein gewöhnliches Gefängnis passt. Zu dritt stehen sie nun vor Gericht. Doch so ziemlich alles ist ein wenig anders, als es auf den flüchtigen ersten Blick scheint.
Das Opfer der Drei: der Exfreund einer der jungen Frauen. Das Lockmittel: ein Sexversprechen. Wobei der Ablauf der Tat und die Rollenverteilung gar nicht so eindeutig sind. Es bestehe noch „viel Klärungsbedarf in diesem Trio“, so der Vorsitzende Richter am ersten Prozesstag. Er sträubt sich daher aktuell noch dagegen, eine sogenannte Verständigung anzustreben, die das verworrene Verfahren abkürzen könnte.
Beginnen wir vorn: Die beiden Angeklagten sind blond, schlank und wirken dem Anschein nach ganz anständig. So sitzen sie vor der Ersten Großen Strafkammer des Rottweiler Landgerichts, während sie auf ihren Prozess warten. Und auf den mutmaßlichen Haupttäter, der an diesem Morgen in seinem Gefangenentransporter in einem winterlichen Stau festhängt. Er befindet sich in Untersuchungshaft, kam zum Prozess aus Stuttgart, soll ein Räuber sein, so die Anklage. Aber wurde der heute 24-Jährige vielleicht selbst zum Opfer der jungen Frauen? Wurde er möglicherweise zu ihrem Werkzeug?
Angeblich Exfreund beraubt
Diese Anklage behauptet: Die 26- und 23-jährigen Schwestern (beide deutsche Staatsangehörige und wohnhaft im Landkreis Rottweil) sollen sich gemeinsam entschlossen haben, sich Geld von einem Bekannten, dem Exfreund der einen, zu verschaffen. Sie hätten ihren damals ebenfalls 23-jährigen Kumpel eingeweiht, „der sich bereit erklärt habe, unter Verwendung eines Messers an der Tat mitzuwirken“, wie es in einer Pressemitteilung des Landgerichts heißt. Der Exfreund, der beraubt werden sollte, sei um die Mittagszeit des 26. März 2025 unter einem Vorwand an einen entlegenen Ort zwischen Rottweil und Deißlingen-Lauffen gelockt worden. Dort habe der 23-jährige Haupttäter ihn unter Vorhalt des Messers zur Herausgabe von Bargeld und des Mobiltelefons aufgefordert. „Dem sei der Bekannte nachgekommen“, glaubt die Anklage.
Die beiden jungen Frauen lassen sich jeweils von einem Anwalt, je einem Pflichtverteidiger, vertreten. Auch der mutmaßliche Haupttäter hat einen eigenen Rechtsbeistand. Und eine Dolmetscherin, während seine mutmaßlichen Komplizinnen und Anstifter keine benötigen. Acht Zeugen sind für den Prozess geladen, ein psychiatrischer Sachverständiger wohnt ihm bei.
Abgründe – und eine ungewisse Zukunft
Die jungen Damen, die ja angeblich in der Lage waren, ein Verbrechen zu planen und einen Täter anzuheuern, verführen zu Assoziationen. Etwa musikalische: „Dies ist ein einfaches Lied für ein einfaches Mädchen“, 1995 veröffentlicht von der Band „Die Schande“, scheint gut auf die Frauen mit ihren an diesem Morgen durchgehend geröteten Backen zu passen. Der Song beschreibt eine junge Frau, die zwar unkompliziert und bodenständig wirkt, aber auch ihre Ecken und Kanten hat. Und schon die „Erste Allgemeine Verunsicherung“ wusste: „Das Böse ist immer und überall!“
Fest steht: Die Schwestern hatten eine mehr als schwierige Kindheit und Jugend. Alkohol spielte bei den Eltern eine entscheidende Rolle. Beide jungen Frauen offenbarten einen Abgrund (siehe Kasten „Lebensgeschichten“). Vor dem Prozess hätten sie bei der Aufklärung des Falles mitgewirkt, erklärte der Staatsanwalt im Gespräch mit der NRWZ, der in diesem Zusammenhang einen minderschweren Fall sieht.
Gut für die beiden jungen Frauen. Im Strafrecht (§ 26 Strafgesetzbuch) wird die Anstiftung zur Straftat gleich dem Täter bestraft, das heißt, die Strafe für den Anstifter entspricht der für den vollendeten Raub. Bis zu zehn Jahre Haft sieht das Gesetz vor. Im minderschweren Fall liegt die Mindeststrafe bei einem Jahr, die Grenze, bis zu der zur Bewährung ausgesetzt werden kann, bei zwei Jahren. Für beide hängt die persönliche Zukunft in der Waagschale. Wie die Justiz bis Prozessbeginn ihre Rolle sah, zeigte sich daran, dass sie beide in Freiheit sind. Sie wurden nicht in U-Haft genommen. Der von ihnen engagierte mutmaßliche Täter schlurfte dagegen, bewacht von Justizbeamten und an Händen und Füßen gefesselt, in den Saal.
Die eine arbeitet im Einzelhandel, die andere macht eine Ausbildung. Im Frühjahr 2025 sollen sie sehr klamm gewesen sein – und deshalb einen Tatplan gefasst haben. Das Opfer sollte der Exfreund der Älteren sein. Diese habe ihm Sex gegen Geld versprochen, sagt die Anklage – was sie nicht zum ersten Mal getan haben soll, wie sich später herausstellt. Das Opfer ging darauf ein. Man verabredete sich in Rottweil. Vorher hätten sie noch das Tatmesser bei KIK gekauft und das Opfer dann bei Norma aufgelesen. Es folgte eine Spritztour durch die Innenstadt. Dort trafen sie „zufällig“ auf die jüngere Schwester und den Mittäter. Und alle zusammen fuhren sie zum Stallberg, der zwischen Rottweil und Deißlingen liegt. Dort soll es zum Raub gekommen sein. Die Beute: 200 Euro und ein Samsung-Handy. Zusätzlich wurde die Bankkarte des Opfers mit der dazugehörigen PIN entwendet, jedoch konnten die Täter später kein Geld abheben.
Richter drängt auf Geständnisse
Ob das alles genau so war – unklar. Der Vorsitzende Richter, Karlheinz Münzer, äußerte erhebliche Zweifel. So soll der mutmaßliche Haupttäter von den beiden jungen Frauen glatt belogen worden sein. Sie sollen ihm vorgegaukelt haben, dass das Opfer ihnen noch Geld schulde, das er einzutreiben helfen solle. „Das wirft ein anderes Licht auf die Rolle der beiden Angeklagten“, so der Richter. Und der vermeintliche Räuber wurde später irgendwie auch selbst zum Opfer.
Im Laufe der Verhandlung hat der Vorsitzende Richter mit Unterstützung der weiteren Prozessbeteiligten begonnen, tief in die Lebensgeschichten des Trios einzudringen. All die Erkenntnisse können sich aufs Strafmaß auswirken, können zum Verständnis der Handlungen beitragen.
Auch danach blieb „die offene Frage, wie die Rollenverteilung war“, sagte der Vorsitzende Richter. Er wünschte dringend einen Einblick in das Beziehungsgeflecht. „Ein bisschen Klarheit.“ Letztlich: Geständnisse. Das könnte zu einer Verständigung zwischen den Prozessbeteiligten führen (siehe Kasten). Staatsanwaltschaft und die beiden Pflichtverteidiger der jungen Frauen sind dafür offen. Ob der mutmaßliche Haupttäter mitmacht? Es wäre ihm angeraten, sagt ein Prozessbeobachter. Während der Vernehmung der Beteiligten arbeiten die drei Anwälte aber naturgemäß eher gegeneinander. So versucht der Anwalt des Tunesiers, die Tatbeteiligung der jungen Frauen hervorzuheben, während deren Anwälte etwa darauf verweisen, dass der Mann ja das Messer gegen das Opfer gerichtet habe.
Ein Geständnis – und ein zweiter Raub
Der heute 24-jährige Tunesier wählte den Weg des Geständnisses. „Steig ein, wir haben ein Problem“ – damit habe für ihn die Geschichte begonnen. Die beiden Schwestern hätten ihn mit dem Auto in Rottweil abgepasst, weinend. Sie hätten ihm erzählt, es gebe einen jungen Mann, der sie bestohlen habe, der einer der Schwestern Geld schulde. „Ein Syrer, der Exfreund der einen.“ Er habe sich bereiterklärt, ihnen zu helfen.
Lebensgeschichten
Der mutmaßliche Haupttäter ist ein junger Mann, der in Tunesien geboren wurde und der in Kindheit und Jugend unter einem gewalttätigen Vater gelitten hat. Er kann heute noch eine Verbrennung zeigen, die er nach einer der Misshandlungen erlitten hat. Er kam „mit 20 Personen in einem Boot“ nach Italien, später über die Schweiz per Zug nach Deutschland und beantragte Asyl aus humanitären Gründen. Damals war er 20. Er schaffte es hier nicht in den Arbeitsmarkt. Er wurde Gelegenheitsarbeiter und begann daneben auch zu stehlen. Trank, nahm Drogen, kam ins Gefängnis. Er würde gerne eine Ausbildung machen. Doch der unscheinbare junge Mann (23) gilt als Intensivtäter, passt in keine gewöhnliche JVA und sitzt aktuell in Stuttgart-Stammheim ein.
Die jüngere der beiden Schwestern hatte ebenfalls eine schwere Kindheit, keine „normale“, wie man wohl sagen würde. Die Mutter hat die Familie mit einem neuen Freund verlassen, der Vater, ein starker Trinker, schlug sie. Er ist inzwischen an einem Leberleiden verstorben. Die Mutter wohnt dem Prozess gegen die Töchter nicht bei. „Sie muss arbeiten“, lautet die Begründung der Tochter. Die junge Frau lebt jetzt allein und arbeitet Teilzeit als Einzelhandelskauffrau. Sie möchte eine Ausbildung machen, sagt sie. Einen Schulabschluss hat sie nicht. Seit dem Auszug der Mutter gehe es ihr besser, „kein Stress mehr“, sagt sie.
„Mein Leben war nicht ganz einfach“, sagt auch die ältere Schwester. Auch sie wurde vom Vater geschlagen. Sie wohnt jetzt mit ihrem Freund zusammen, hat ebenfalls den Absprung geschafft. Beide jungen Frauen sind frühere Förderschülerinnen. Die Ältere erzählt, dass sie ihr eigenes Auto, das sie von ihrem eigenen Geld gekauft hat, erst anmelden konnte. Dies war erst möglich, nachdem sie die Schulden ihrer Mutter in vierstelliger Höhe beglichen hatte, die diese gegenüber den Behörden noch hatte.
Alkohol und Drogen spielen im Leben der beiden jungen Frauen keine Rolle.
Das Messer kauften sie bei KIK am Kriegsdamm in Rottweil. Das bestätigt der 24-Jährige. Warum ein Messer? Er hielt das Opfer, das er dazu bringen sollte, Geld zurückzugeben, für stärker und ihm überlegen. Sie hätten es gekauft, „um dem jungen Mann Angst einzujagen“. Im Übrigen bestätigt er weitgehend den Verlauf der Tat wie in der Anklage vorgetragen – aber eben mit anderem Hintergrund. Er fühlte sich offenbar als Rächer, als eine Art Robin Hood. Er fühlte sich nicht als ein böser Räuber mit Gewinnerzielungsabsicht. Wenngleich er seinem Opfer Geld und Handy abnahm.
Das Opfer ging nach der Tat zur Polizei. Und dieser junge Mann soll nach Aussage des Tunesiers bald selbst Kumpel losgeschickt haben, mit dem Auftrag, das ihm abgenommene Handy zurückzuholen. Beim mutmaßlichen Täter zuhause, unter Vorhalt eines Messers. Auch das führte zu einer Anzeige. Eine der dieser Räuber ist bereits unter Mithilfe der jungen Frauen verurteilt worden.
Was das Opfer sagt
Mit der älteren Schwester war er befreundet, sagt der aus Syrien stammende 27-Jährige. Sie habe ihn auf Facebook angeschrieben, erzählt er. Sie seien lange zusammen gewesen, zwei, drei, vier Jahre. Wohnten auch zusammen, trennten sich dann.
Nach einer längeren Zeit des Stillschweigens meldet sich die jüngere Schwester seiner früheren Freundin. Die Mutter habe die beiden verlassen, sie brauche dringend Geld, sie hätten nicht einmal mehr Geld für Lebensmittel. Die Ältere habe sich ebenfalls gemeldet und ihm angeboten, mit ihm zu schlafen. Und insistiert, dass er ihr Geld leihe. „Gib mir 200 Euro und wir können miteinander schlafen, ich tue alles, was Du möchtest“, soll sie gesagt haben.
Daran hat die Kammer erhebliche Zweifel. Frühere Dienstleistungen der jungen Frau seien schließlich wesentlich teurer gewesen.
„Sie hat sich prostituiert.“
An dieser Stelle liest der Richter Chatnachrichten zwischen den beiden vor. Darin schachern sie um Geld und die sexuellen Dienste, die sie ihm zu leisten habe. Ziemlich deftig geht es da zu. Der Ton der Nachrichten steht in krassem Widerspruch zum anständigen Auftreten der Beteiligten vor Gericht. Beispiel: „Erstmal fi…, dann Geld“, soll der Exfreund, der Syrer, geschrieben haben.
„Sie hat sich prostituiert“, fasst das der Richter zusammen. Das soll kein Einzelfall gewesen sein, das ist offenbar schon mehrfach zuvor vorgekommen. Da hat jeweils viel Geld den Besitzer gewechselt. „Sittenwidrig viel“, wie ein Prozessbeteiligter witzelte. „Fast schon Wucher“, wie ein weiterer ungläubig anmerkte. Vierstellige Summen, jedenfalls. Was der Verfügungsrahmen des Syrers damals eben hergab, oder der damalige 25.000-Euro-Kredit der Targo-Bank. Er ist Arbeiter.
Er leiht sich nun Geld von seinem Vater, sie treffen sich bei Norma in Rottweil. „Geplant wäre gewesen, dass wir zu mir nach Hause fahren.“ Stattdessen bekam sie lauter Nachrichten auf dem Handy, dann trafen sie auf ihre Schwester und deren Begleiter. Und er schildert den Raub gemäß der Anklage. Wobei er auf Nachfrage des Richters klarstellt: Das Geld und das Handy, die der Räuber ihm abnahm, habe dieser an die Mädchen weitergegeben. Wie der Auftragsräuber, als der sich der Tunesier darstellte.
Nachdem er bei der Polizei gewesen sei, seien die Schwestern bei ihm aufgetaucht – und hätten ihn um Entschuldigung gebeten. Auch hätten sie versprochen, ihm das Geld zurückzugeben. Zuvor solle er seine Anzeige gegen sie zurückziehen.
Er habe im Anschluss aber Angst gehabt vor den Freunden des Tunesiers. Dass diese ihm etwas antun. Diese Angst sei erst allmählich verschwunden, nachdem der Tunesier verhaftet worden ist.
Und weder Geld noch Handy habe er bis heute zurückerhalten.
Der Prozess wird fortgesetzt.
Verständigung
Im deutschen Strafprozess handelt es sich bei der im Mediengebrauch oft als „Deal“ bezeichneten Verständigung im Strafverfahren um eine bestimmte Methode. Bei dieser Verständigung erzielt das Gericht mit den am Verfahren beteiligten Personen eine Einigung über den weiteren Verlauf und die Ergebnisse des Verfahrens. Ihre gesetzliche Regelung erfolgt in § 257c Strafprozessordnung. Der häufigste Anwendungsfall besteht darin, sich über das zu erwartende Strafmaß im Falle eines Geständnisses zu einigen. Oft haben Staatsanwaltschaft und Gericht ein Interesse an einer solchen Einigung, da dadurch der Aufwand des Verfahrens, insbesondere die Dauer der Hauptverhandlung, erheblich reduziert werden kann. Dadurch können die Ressourcen des Justizsystems geschont und einer Überlastung der Gerichte entgegengewirkt werden.